Er sucht "Deutschlands Meisterkoch"

Tim Raue: Sternekoch war früher in einer Gang

von Eric Leimann

Bei SAT.1 sucht er "Deutschlands Meisterkoch" und wird demnächst auch in der Jury von "The Taste" sitzen. Dabei hat Sternekoch Tim Raue seine Karriere in einer Kreuzberger Jugendgang begonnen.

Bis vor Kurzem war Tim Raue kulinarischer Direktor der Restaurants im vornehmen Berliner Hotel Adlon. Nicht schlecht für einen 36-Jährigen, der aus schwierigen Verhältnissen in Berlin-Kreuzberg stammt. Sein Vater schlug ihn, zur Mutter brach er aus dem gleichen Grund den Kontakt ab. Ende der 80-er wurde Raue als einziger Deutscher Mitglied der berüchtigten Jugendgang "36 Boys". Doch statt Knast folgte eine sagenhafte Karriere am Kochlöffel. Kurz vor Eröffnung seines ersten eigenen Restaurants "Tim Raue" – natürlich in Kreuzberg – spricht der Sternekoch über seine ungewöhnliche Biografie, die asiatische Philosophie hinter seiner Kochkunst und "Deutschlands Meisterkoch". In der SAT.1-Primetime-Show am Freitag zeigt sich der Kochexzentriker erstmals abendfüllend im TV. Im Herbst wird er zudem in der Jury bei "The Taste" sitzen.

prisma: Herr Raue, Sie gelten als einer der aufregendsten Köche Deutschlands. Kochsendungen boomen nicht erst seit gestern. Warum sieht man Sie erst jetzt im TV?

Tim Raue: Weil ich in dieser Sendung nicht kochen muss, sondern "nur" in der Jury sitze. Meine Küche ist ziemlich aufwendig. Ich arbeite mit acht Köchen – mich selbst mitgezählt. In dieser Besetzung machen wir nicht mehr als etwa 50 Essen am Tag. Es wäre also absurd, wenn ich mich vor die Kamera stelle und behaupte, dass ich das auf gleichem Niveau auch alleine kann.

prisma: In "Deutschlands Meisterkoch" suchen Sie den besten Amateurkoch des Landes. Was unterscheidet talentierte Amateure von gelernten Köchen?

Raue: Es ist vor allem die Leidenschaft, die diese Art von ambitionierten Hobbyköchen auszeichnet. Der Kochberuf hat vor allem am Anfang wenig mit Kreativität zu tun. In der Küche geht es streng hierarchisch zu. Man arbeitet lange Zeit anderen zu, bevor man – wenn überhaupt – in die Position kommt, selbst zu gestalten. Was den Amateuren fehlt, ist jedoch oft die handwerkliche Ausbildung. Wie filettiert man einen Fisch, wie legt man einen Kalbsrücken perfekt auseinander? Bei so etwas haben die gelernten Köche meist die Nase vorn.

prisma: Wollten Sie damals Koch werden, um Ihre Kreativität auszuleben?

Raue: Ich wollte überhaupt nicht Koch werden, sondern lieber Abitur machen. Da ich aber kein richtiges Zuhause hatte, fiel diese Option weg. Meine Klassenlehrerin empfahl mir, eine Kochausbildung zu machen – weil ich gerne etwas Gestalterisches machen wollte. So schnöde fing das Ganze an.

prisma: Die wenigsten Spitzenköche haben uneingeschränkt gute Erinnerungen an ihre Lehrzeit. War es bei Ihnen anders?

Raue: Nein. Mein erstes Lehrjahr war die Hölle. Ich kochte im Chalet Suisse, das ist eine Art Ausflugslokal in Berlin. Da haben wir 300 bis 400 Essen am Tag rausgehauen. In der Küche ging es richtig zu Sache, was den Umgang miteinander betraf. Und ich stand ganz unten in der Hackordnung, damit bin ich nicht gut klargekommen. Ich musste auch erst lernen, Konflikte verbal, also mit Argumenten zu lösen.

prisma: Weil Sie vorher mit einer Gang um die Häuser gezogen sind, wo das Reden erst an zweiter Stelle stand?

Raue: Es gab Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre eine Reihe sehr gewaltbereiter Jugendgangs in Berlin. Die Schlimmste waren die "36 Boys" aus Kreuzberg. Da gehörte ich dazu – als einziges deutsches Mitglied. Der Rest waren Türken, Kurden, Araber und ein Grieche. Ich bin nicht besonders stolz darauf, was wir mit anderen Menschen gemacht haben. Das einzig Gute war, dass ich in dieser Zeit Durchsetzungsvermögen gelernt habe. Das half mir in der Küche manchmal weiter.

prisma: War die Entscheidung für das Kochen auch eine Entscheidung gegen eine kriminelle Karriere?

Raue: Damals war das noch nicht einmal klar. Beides lief erst nebeneinander her. Die Wende kam, als ich mit 19 in der Disko meine Frau kennenlernte. Da war ich im zweiten Lehrjahr. Ich arbeite übrigens seit dieser Zeit mit ihr zusammen, seit mittlerweile 13 Jahren. Sie macht den Service und kommuniziert mit den Gästen. Bei meinem neuen Restaurant ist sie die geschäftsführende Gesellschafterin und ich ihr Angestellter.

prisma: Wie haben Sie es vom Ausflugslokal in die Sterneküche geschafft?

Raue: Im zweiten Lehrjahr stellte ich fest, dass man Essen nicht nur mit der Kelle, sondern auch mit einem Löffel auf den Teller bringen kann. Ich fing an, Kochmagazine zu lesen. Dann wechselte ich in ein kleines, ambitioniertes Restaurant. Danach kam bald die Sternegastronomie, wo ich geblieben bin.

prisma: Ihre Küche ist stark asiatisch inspiriert – obwohl Sie nie lange dort gelebt haben?

Raue: Ich war nie lange, aber dafür oft in Asien. Das erste Mal 2004. Danach hat eine unglaubliche Entwicklung, ein Umdenken bei mir eingesetzt. Ich wurde 2007 als Koch des Jahres ausgezeichnet – und war total unglücklich darüber. Weil die mich für eine Küche ehrten, hinter der ich überhaupt nicht mehr stand.

prisma: Welche asiatischen Erkenntnisse waren das, die Sie so stark veränderten?

Raue: Die Ideen stammen aus China, Thailand und Japan. China lehrte mich, dass Essen ein sozialer Akt ist. Selbst in der Sternegastronomie sitzt man an langen oder runden Tischen. Viele Menschen essen gemeinsam – oft vom gleichen Teller, es geht zu wie in einer Familie. Das andere ist die Intensität, mit der man in China darüber nachdenkt, was man isst. Die bereiten zum Beispiel die Schwimmblase von großen Seebarschen zu. Mit der Begründung, dass diese Blase den Fisch in Balance hält – was sie nun auch beim Menschen tun soll. Es wird viel weiter gedacht in der chinesischen Küche. Im Sommer isst man Produkte, die den Körper kühlen, im Winter Dinge, die ihn wärmen. Das Essen, was hier bei uns unter dem Logo "chinesisch" serviert wird, hat damit aber nichts zu tun. Das ist meistens Bullshit.

prisma: Sie sagten, dass auch Thailand Inspiration war...

Raue: Die Thais haben eine sehr arme Küche. Das hat den Vorteil, dass sie alles sehr schnell garen. Es ist keine Zeit da, um die Dinge lange zu schmoren. Oder drei Stunden lang eine Soße zu kochen. Das geht zack, zack, zack – dann muss ein Gericht fertig sein. Durch das kurze Garen bleiben Vegetabile, also grüne Aromen, erhalten. Man schmeckt Süße, Säure und Schärfe – das ist alles sehr prägnant.

prisma: Und was lernten Sie in Japan?

Raue: Die Japaner denken ganz anders über die Zubereitung von Essen nach als der Rest der Welt. Viele Vorgänge sind streng ritualisiert. Was erklärt, warum eine Ausbildung zum Sushi-Meister sieben Jahre dauert. Man behandelt jedes Produkt mit sehr viel Respekt. Was ich ebenfalls beeindruckend finde, ist die japanische Auffassung, dass man Produkte danach würzt, wie man sie schneidet. Ein einfaches Beispiel, das auch wir verstehen können, sind Karotten. Die schmecken süßer, wenn man sie in Scheiben schneidet, als wenn man sie zu Stiften verarbeitet. Die Stifte haben mehr Säure. Über so etwas hat bei uns bis vor Kurzem kein Mensch nachgedacht.

prisma: Wenn ein Koch aus Berlin-Kreuzberg chinesische, thailändische und japanische Einflüsse zusammenwirft – bleibt dann trotzdem etwas typisch Deutsches im Essen zurück?

Raue: An meinem Essen ist nichts Deutsches. Ich sehe mich auch nicht als Deutschen, eher als Preuße. Ich stehe für das, was meine Großeltern repräsentieren, die in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen. Das ist Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Struktur. So funktioniert auch meine Küche – im ersten Schritt. Darauf kommt dann Kreativität und Lebensfreude.

prisma: Sie sprechen sehr viel über die Philosophie Ihrer Küche. Aber woher nehmen Sie die konkreten Ideen für das, was auf den Teller kommt?

Raue: Ich bringe sie von Reisen mit oder von Spaziergängen. Eine meiner wichtigsten Inspirationsquellen ist das Kaufhaus KaDeWe. Ich lasse mich von Stoffen inspirieren, von Düften, Lederwaren oder Schuhen. Es kann eine Farbe sein oder eine bestimmte Form der Verarbeitung. Das ist es, was mich reizt.

prisma: Ab Ende August 2010 gibt es in Kreuzberg nun Ihr erstes eigenes Restaurant. Sie betonen immer wieder Ihre Herkunft. Wieviel Kreuzberg steckt heute noch im Koch Tim Raue?

Raue: Früher sagte ich, dass Kreuzberg die Anarchie meiner Gedanken geprägt hat. Anarchie im Sinne von "anders denken". Heute ist Kreuzberg einfach nur meine Heimat. Wobei wir mit dem Restaurant am äußersten Rand des Bezirks liegen. Fünf Zentimeter weiter ist schon Mitte. Auf dem Kiez hätte ich mit dieser Art Küche ohnehin keine Chance. Was mir gefällt ist, dass ich ab jetzt viel mehr für die Berliner koche. Im Adlon hatten wir logischerweise ein vorwiegend internationales Publikum. Seit etwa zwei Jahren habe ich auch wieder Kontakt zu meinen alten Freunden aus der Jugend. Nicht alle haben den falschen Weg eingeschlagen. Auch wenn einige nicht wirklich viel damit anfangen können mit dem, was ich heute tue. Aber die Jungs sind natürlich sehr stolz darauf, was ich erreicht habe.

prisma: Sie haben es mit Kochen geschafft. Was haben die anderen geläuterten "36 Boys" erreicht?

Raue: Einige haben ein sehr erfolgreiches Streetwear-Label gegründet, das sogar "36 Boys" heißt. Ich kooperiere mit den alten Kumpels und einer sehr renommierten Modeschule. Es gab zum Beispiel Modenschauen in unseren Räumlichkeiten. Ich mache so etwas aber nur, wenn ich auch etwas erreichen kann. Unser Ziel ist es, Geld zu verdienen, das wir in Förderprogramme für Jugendliche aus dem Viertel stecken. Es geht da zum Beispiel darum: Wie bewerbe ich mich? Was kann ich mitnehmen aus meinen Erfahrungen? Wo liegen meine Stärken? Ein bisschen was wollen wir an das Viertel zurückgeben, aus dem wir unsere Kraft geschöpft haben.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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